Gesellschaft im Wandel

120 Jahre Frankfurter Freikörperkultur

von Julia Preißer

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Dass es bereits um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert eine Freikörperkulturszene in Frankfurt gab, die sich damals noch Nacktkulturbewegung nannte, weiß kaum jemand. Während meines Geschichtsstudiums fiel mir auf, dass es zur FKK in großen Städten wie Hamburg, Berlin und München zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen gibt - nicht jedoch für Frankfurt. Da muss doch mehr sein! Aus Neugier bewarb ich mich beim Projekt Stadtteil-Historiker der Stiftung Polytechnische Gesellschaft.

Der ambitionierte Titel meiner Bewerbung lautete: “120 Jahre Frankfurter Freikörperkultur”. Dass ich mich tief durch die Archive wühlen würde müssen, um diesem Titel annähernd gerecht zu werden, wusste ich damals noch nicht. Als ersten Hinweis hatte ich nur eine nicht näher belegte Aussage von Wikipedia, dass es in Frankfurt in den frühen 1930er-Jahren zur Gründung einer selbsternannten “Europäischen Union für Freikörperkultur” kam. Aha! Ein vager Hinweis, aber durchaus interessant und Grund genug, um auf Spurensuche zu gehen.

Ergebnisdarstellung

Erste Hinweise auf eine Freikörperkultur-Szene in Frankfurt gibt der Sammelband „Vor den Toren Bad Homburgs“, den der Geschichtskreis Dornholzhausen 2002 herausgegeben hat. Demnach existierte zwischen 1908 und vermutlich bis Ende des Zweiten Weltkrieges ein sogenanntes „Sonnenbad“ – ein Freikörperkultur-Gelände am Rand von Dornholzhausen. Dieses wurde vom Frankfurter Reformhaus Freyer und dem Bund „Orplid” (benannt nach dem Gedicht “Gesang Weylas” von Eduard Mörike) finanziert. Eigentümer war der Homburger Handelslehrer Guido Sauerbrei.

Auf dem Gelände gab es einen Bach und einen Naturteich. Die Abteilungen für Männer und Frauen waren durch eine Thujahecke und zusätzlich durch einen 2,10 Meter hohen Zaun getrennt. Unter den Frankfurter FKK-Anhängern, die in Dornholzhausen gebadet haben, waren viele Mitglieder der Frankfurter Ärzteschaft und anderer angesehener Berufe. Die Orplid-Gruppe traf sich hier zu Sonnwendfeiern.

Frankfurter FKK-Pioniere gründen eigene Ortsgruppe

Hinweise auf Orplid-Gruppen in Frankfurt gibt es also schon für das erste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts. Zunächst scheinen die Frankfurter FKK-Anhänger sowohl Kontakte nach Dornholzhausen als auch nach Darmstadt gepflegt zu haben. So schreibt der Orplid Darmstadt in seiner Chronik, es habe sich auf der Jahreshauptversammlung 1924 eine eigene Frankfurter Ortsgruppe gegründet, die 1925 selbstständig geworden sei.

Auch die bekannte FKK-Zeitschrift “Kraft und Schönheit” (gegründet 1901) soll eine Zweigstelle in Frankfurt gehabt haben, wie der DFK (der Dachverband der FKK in Deutschland) auf seiner Website schreibt.

Therese Mülhause-Vogeler vertritt die Frankfurter FKK nach außen

Eine der bekanntesten Vertreterinnen der Freikörperkultur in Deutschland und in ganz Westeuropa war Therese Mülhause-Vogeler (1893-1948). 1922 zog sie von Berlin nach Frankfurt. Sie vertrat die Ideen der Freikörperkultur in öffentlichen Vorträgen, journalistischen Essays und Büchern.

Mit der Freikörperkulturbewegung in Kontakt kam Mülhause-Vogeler durch ihren Ehemann, der Mitglied der Berliner FKK-Bewegung war. Sie engagierte sich schon in jungen Jahren in der Lebensreformbewegung. So war sie von 1921 bis 1925 Mitglied der Frankfurter Wandervögel Völkischer Bund. 1925 trat sie dem Bund Orplid Darmstadt-Frankfurt bei und übernahm 1932 den Vorsitz in der sogenannten „Liga für freie Lebensgestaltung Orplid Frankfurt“. Als der Orplid nach der nationalsozialistischen Machtergreifung gleichgeschaltet wurde, trat sie aus.

In den 1930er-Jahren saß Mülhause-Vogeler im Vorstand des Reichsverbands für Freikörperkultur. 1931 wurde sie außerdem Sekretärin einer Gemeinschaft aus FKK-Anhängern verschiedener europäischer Nationen, die sich als „Europäische Union für Freikörperkultur“ (EUFK) bezeichneten. Später war sie deren Vizepräsidentin.

Gründer der Europäischen Union für Freikörperkultur treffen sich in Frankfurt

1930 strebten die FKK-Aktivisten eine internationale Vernetzung an. Frankfurt wurde Schauplatz eines interessanten Treffens von Vertretern der Freikörperkultur aus Deutschland, Frankreich, Großbritannien, den Niederlanden, Österreich und der Schweiz. Erklärtes Ziel war es, über nationale Grenzen hinweg zusammenzuarbeiten, um die Idee der Freikörperkultur international zu verbreiten.

Wenig später gründeten die Vertreter eine internationale Organisation, die sie als „Europäische Union für Freikörperkultur“ bezeichneten. Die internationale Zusammenarbeit wurde im März 1933 durch den Nationalsozialismus zerstört. Erst 1953 kam es in Frankreich zu einer erneuten internationalen Vereinigung der Freikörperkultur, die sich „Internationale Naturisten-Föderation“ nannte.

Staatspolizei Frankfurt verbietet die Nacktkulturbewegung

Der Nationalsozialismus führte in Frankfurt – wie auch im Rest eutschlands – zum Verbot der Freikörperkultur. Am 21. März 1934 sendete die Staatspolizeistelle Frankfurt eine Abschrift des Erlasses Nr. 13 vom 8. März 1933. Darin wird die Nacktkulturbewegung als “eine der größten Gefahren für die deutsche Kultur und Sittlichkeit” bezeichnet. Sie ertöte bei den Frauen das natürliche Schamgefühl und nehme den Männern die Achtung vor der Frau. Es sollten alle polizeilichen Maßnahmen ergriffen werden, “um die sogenannte Nacktkulturbewegung zu vernichten.”

Sport steht nun im Mittelpunkt

Der Verein „Orplid“ löste sich also auf. Erst 1949 gründete sich der „Orplid e. V. Frankfurt“ neu. Die Satzung vom 13. April 1951 (Fassung vom 2. Oktober 1954) erklärt die Ziele des Vereins. Die Betonung liegt auf einer – an „christlich-sittlichen Bindungen“ ausgerichteten – Neugestaltung der Geschlechtsmoral und Sexualethik. Auch Naturverbundenheit, Spiel und Sport werden genannt – allerdings weit weniger vehement als in einer späteren Satzung. Am 9. Juni 1953 ließ sich der Verein ins Vereinsregister eintragen.

Seit den 1970er-Jahren begriff sich der “Orplid e. V. Frankfurt” - wie viele andere FKK-Vereine - mehr und mehr als Sportverein. Die neue Satzung betont die sportliche Freizeitgestaltung. In §1 der Satzung wird die Freikörperkultur zuletzt aufgeführt. Wichtiger scheinen die gesunde Lebensweise sowie der damit in Verbindung gebrachte Sport zu sein.

Der „Deutsche Verband für Freikörperkultur e. V.“ schreibt auf seiner Website, dass man in den 1970er-Jahren mit dem Versuch, die Freikörperkultur als gemeinnützig anerkennen zu lassen, gescheitert sei. Deshalb habe man sich veranlasst gefühlt, die Satzung der Vereine anzupassen und die sportliche Ausrichtung zu betonen.

Die Frankfurter FKK-Anhänger suchen geeignete Gelände

Die Naturisten des Orplid hatten in ihrer Anfangszeit mit juristischen Hürden zu kämpfen. Neben dem gescheiterten Versuch, als gemeinnützig anerkannt zu werden, gestaltete sich auch die Suche nach einem geeigneten Grundstück schwierig. Bis in die 1950er-Jahre hatten die Vereinsmitglieder kein eigenes Gelände. Hinzu kamen bürokratische Hürden. 1957 ließ sich der „Orplid e. V. Frankfurt“ auf einem ca. 120.000 Quadratmeter großen Gelände in der Gemarkung der Stadt Neu-Isenburg nieder.

Auch ein zweites Gelände war bei FKK-Anhängern beliebt: Die Niddainsel im Westen Frankfurts. Seit den 1970er-Jahren badeten hier Frankfurter Naturisten. Innerhalb des „Orplid e. V. Frankfurt“ gründete sich die „Gruppe Niddainsel“, die sich in den 1990er-Jahren vom Verein löste und 1998 einen eigenen Verein, den „SV Orplid Niddainsel Frankfurt e. V.“, gründete.

Die Frankfurter FKK-Jugend

Seit dem Ende der 1950er-Jahre existierte innerhalb des Orplid in Frankfurt auch eine Jugendorganisation, die sich anfangs „FKK-Jugend Frankfurt/Main“ nannte. Ab 1957 warb der Vorstand in Rundschreiben für seine Freizeitaktivitäten. Später nannte sich die Gruppe „Lichtschar“ oder „Lichtschar/Die Krebse“.

Ab 1963 wird im Archiv des Niedersächsischen Instituts für Sportgeschichte erstmals auch erwähnt, dass der Sport- und FKK-Verein „Hellas“ eine eigene Jugendgruppe gründete. Ein reger Briefverkehr zwischen der Bundesführung der FKK-Jugend und der Frankfurter Jugendgruppe des „Hellas“ gibt Zeugnis von Freizeitaktivitäten wie Wanderungen, Heimatabenden, Faschingsveranstaltungen und Literaturclubs.

Alle FKK-Jugendorganisationen in Frankfurt pflegten überregionale Kontakte zu Anhängern der Freikörperkultur. So trafen sich die Jugendlichen beispielsweise mehrmals in Berlin.

Sportliche FKK-Turniere in Frankfurt

FKK und Sport waren eng verknüpft. In Frankfurt selbst fanden zahlreiche regionale und überregionale Turniere statt, die nackt bestritten wurden. So organisierte der Verein „Hellas“ 1964 die erste hessische FKK-Tischtennismeisterschaft, an der mehrere Vereine aus der Region teilnahmen. Auch FKK-Ringtennismeisterschaften fanden regelmäßig statt.

Interessant sind auch die regelmäßigen Indiaca-Turniere in Frankfurt, wie beispielsweise 1978 und 1990 beim Orplid Frankfurt und 1987 auf der Niddainsel. Das südamerikanische Rückschlagspiel Indiaca war, wie eine Chronik des Orplid Darmstadt zeigt, auch in anderen FKK-Vereinen ein beliebter Sport, der noch immer betrieben wird.

Feedback zur Forschung

Das Feedback hat mich selbst überrascht. Nachdem die Frankfurter Neue Presse, die Gießener Zeitung und das Main Echo über meine Forschung berichtet hatten, quoll mein E-Mail-Postfach in den Wochen darauf regelrecht über. Jeden Tag erreichten mich mehrere E-Mails mit weiteren Hinweisen, mit denen ich meine Website ergänzen will.

Meine Forschung zog vor allem bei den FKK-Anhängern weite Kreise. Einige FKKler aus Norddeutschland meldeten sich bei mir. Eine Anfrage kam sogar aus den USA. Auch der Hessische Rundfunk rief für eine geplante Kurz-Reportage zum Thema FKK in Frankfurt bei mir an.

Besonders gefreut hat mich, dass sich eine Familienangehörige von Therese Mülhause-Vogeler bei mir gemeldet hat. In langen Telefonaten hat sie mir über ihre Mutter erzählt und mir auch Fotos für meine Website bereitgestellt. So geht die Forschung in die nächste Runde.

Über die Autorin

Julia Preißer

Mein Name ist Julia Preißer. Ich arbeite als Journalistin, Autorin und Künstlerin. Studiert habe ich Digitale Medien, Online Journalismus und Geschichte Europas. Die Geschichtsforschung ist für mich zu einem Hobby geworden, und so werde ich auch nach dem Projekt “Stadtteil-Historiker” weiterhin aktiv forschen. Demnächst erscheint mein Buch “Körperbilder der Berliner Revue. Inszenierung und Rezeption Schwarzer und weißer Bühnendarstellerinnen und -tänzerinnen in den 1920er Jahren” (978-3-95593-131-5). Wer Fragen oder Hinweise zur Frankfurter Freikörperkultur hat, kann mich gerne über die Stiftung Polytechnische Gesellschaft kontaktieren.