Technik, Handel, Gewerbe und Unternehmen

Die chemische Fabrik im Oeder Weg

von Dr. Reinhard Büttner

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Auf der Suche nach einem Objekt für die »Stadtteil-Historiker« stieß ich bei Volker Rödel in dessen umfangreicher Arbeit über die Fabrikarchitektur in Frankfurt im 19. Jahrhundert auf diese chemische Fabrik im Oeder Weg / Ecke Jahnstraße.

Der Fabrikgründer Friedrich Wippermann, ein gelernter Apothekengehilfe aus dem thüringischen Borxleben, war nach seiner Ausbildung in Frankenhausen auf der üblichen Wanderschaft nach Frankfurt gekommen und hatte hier bereits nach wenigen Jahren eine berufliche Karriere gemacht: Da seine lange Lehrzeit nicht nur die Pharmazie, sondern auch den Handel mit Materialwaren betraf, war er 1815 in der Handlung der »Gebrüder Ettling« bereits zum »Hauptgeschäftsführer« aufgestiegen. Unter Materialwaren verstand man damals Apothekerwaren, aber auch Farben, Chemikalien und diverse Genussmittel. Nach Einbürgerung und Hochzeit mit der Tochter von Gottlieb Ettling wurde Wippermann Mitinhaber und 1822 alleiniger Besitzer der Handlung in der Neuen Kräme, einer der bedeutenden Handelsstraßen in der Altstadt.

1825 ließ Wippermann in seinem Garten vor dem Eschenheimer Tor, am »Weg nach den Gütern v. Adlerflycht, v. Stallburg und v. Holzhausen«, dem späteren Oeder Weg, gegen großen Widerstand eine Göppelmühle bauen. Diese von Pferden angetriebene Mühle diente ihm vor allem einer Effizienzgewinnung beispielsweise beim Zerkleinern von Hölzern, Rinden und farbstoffhaltigen Färbepflanzen vor ihrem Einweichen im Farbbad, also vor ihrer Verwendung durch Maler und Färber. Die Fabrik florierte, denn 1836 wurde der Produktionsablauf durch den Bau einer Dampfmaschine modernisiert – übrigens die erste in Frankfurt vom Senat genehmigte Dampfmaschine. Der hohe Schornstein der Fabrik war in der noch wenig bebauten Vorstadt weithin zu sehen.

1858 verkaufte Friedrich Wippermann sein Unternehmen an den Chemiker Eugen Lucius aus Erfurt und den Apotheker Friedrich Saul aus Alach. Nachdem beide zukünftigen Unternehmer für den Erwerb des Bürgerrechts ausreichende Vermögen nachgewiesen hatten, wurde ihnen vom Senat das Bürgerrecht zuerkannt, und im August 1858 erhielten sie die Erlaubnis, in der Fabrik im Oeder Weg die bisher schon dort produzierten Waren wie chemische Präparate, Farben, pharmazeutische Hölzer, Salze usw. herzustellen.

Eugen Lucius war das zehnte von elf Kindern des Erfurter Unternehmers Sebastian Lucius, zu dessen Firma »J. A. Lucius« Spinnereien, Webereien und Druckereien in Thüringen und Sachsen sowie der Handel mit Garnen und Tuchen gehörten. Der Vater war Gründungsmitglied der Erfurter Handelskammer, führte in Erfurt die erste Dampfmaschine ein und den ersten mechanischen Webstuhl. 1842 beschäftigte seine Firma 860 Arbeiter.

Eugen Lucius hatte u. a. mehrere Semester bei dem aus Frankfurt stammenden Remigius Fresenius in Wiesbaden studiert, der dort nach dem Vorbild seines Gießener Lehrers Justus Liebig ein chemisches Ausbildungsinstitut gegründet hatte, hier hatte er auch Adolf Brüning kennengelernt. Schon früh versuchte er, eine Beteiligung an der bereits international handelnden pharmazeutischen Fabrik von Hermann Trommsdorff in Erfurt zu erreichen. 1857 machte er den Vorschlag, sich mit 50.000 Talern an dem Unternehmen zu beteiligen. Trommsdorff lehnte ab.

Nach dem Scheitern dieses Plans ging Lucius 1857 nach Manchester, um die britische Industrie kennenzulernen und dort sein Chemiestudium bei Edvard Frankland fortzusetzen, ebenfalls ein Schüler von Liebig. Aus dieser Zeit stammt vermutlich auch der Kontakt mit Wilhelm Meister, der dort ein Handelsgeschäft für seine Familie betrieb. 1858 beendete Lucius in Heidelberg bei Robert Bunsen und dem aus Darmstadt stammenden August Kekulé (ebenfalls ein Liebig-Schüler) sein Studium.

Aus dem Labor von Liebig in Gießen gingen die Pioniere der Teerfarbenverarbeitung hervor, die zunächst in England erfolgreich waren und schließlich auch im Rhein-Main-Gebiet produzierten. Auch Lucius hatte sich in seiner Fabrik im Oeder Weg ein Laboratorium eingerichtet, wo er mit den neuen synthetischen Teerfarbstoffen, insbesondere mit dem roten Fuchsin, experimentierte, wie dies später der kaufmännische Lehrling Etienne Roques in einem Brief an die Farbwerke berichtete:

»Das kleine Gewölbe wies deutliche Spuren von Rotfärbung auf und wurde von uns Lehrlingen respektvoll als die Wiege der Farbwerke angesehen.« Etienne Roques Brief an die Farbwerke

1860 heiratete Lucius Maximiliane Becker, eine Tochter des Frankfurter Malers und Städel-Professors Jakob Becker. Wilhelm Meister heiratete kurze Zeit später Maximilianes ältere Schwester Marie.

Gemeinsam mit August Müller aus Antwerpen (einem Onkel von Maximiliane Becker), Wilhelm Meister und Adolf Brüning begann Eugen Lucius ab 1860 mit den Planungen für den Bau einer neuen Teerfarbenfabrik im damals nassauischen Höchst am Main direkt neben dem Neuen Schloss. Die »Chemische Fabrik Meister Lucius & Co.« wurde im Januar 1863 eröffnet. Aus der Ankündigung der Eröffnung erfährt man, dass sich das Etablissement speziell mit der Darstellung von Anilinfarben und den damit zusammenhängenden Substanzen beschäftigen wird. Aus diesem Unternehmen ging später das lange Zeit größte Chemie- und Pharmaunternehmen der Welt, die Hoechst AG, hervor. Der Studienkollege von Lucius Adolf Brüning wurde zunächst nur Technischer Direktor mit Gewinnbeteiligung.

Bald darauf wurde in Höchst mit der Herstellung von Fuchsin und Anilin begonnen, es folgte die Produktion des von Lucius und Brüning entwickelten Aldehydgrüns. Dies war der erste grüne Textilfarbstoff, der auch bei Gaslicht seinen Farbton behielt.

Nach dem Ausscheiden von Saul 1864 firmierte das Unternehmen im Oeder Weg als »Fabrik pharmazeutischer und chemischer Präparate, Fabrik von Cacaomassen und Chocoladen, Dampfmühle und Pulverisier-Anstalt E. Lucius in Frankfurt am Main«.

Ebenfalls 1864 fand im Saalbau, dem größten öffentlichen Gebäude der Stadt in der Junghofstraße, eine »Frankfurter Kunst- & Industrieausstellung« statt. Die Höchster Fabrik Meister Lucius & Co. stellte Anilinfarben aus, die Chemische Fabrik Lucius im Oeder Weg zeigte chemische Präparate, geschnittene Drogen, pulverisierte Drogen, nass präparierte Substanzen, Kakaomasse, Ölfarben und gemahlene Gewürze. Der Katalog dieser Ausstellung zeigte auch, wie breitgefächert sich inzwischen die chemische Fabrikation in Frankfurt und Umgebung entwickelt hatte.

Die traditionelle Farben- und Extraktionsfabrik im Oeder Weg existierte weiter. Das Geschäft lief ja sehr gut, wie dies Lucius in einem Brief an Brüning schon vor der Gründung in Höchst geschrieben hatte. Wieso sollte er die Fabrik aufgeben, wo doch die Einführung der synthetischen Farben bei den Textilfärbern nur zögerlich vonstattenging und der Produktionsumfang der Naturfarbenmühle offenbar die Anilinfarbenproduktion deutlich übertraf.

Erst 1874, also elf Jahre nach Gründung der Fabrik in Höchst, verkaufte Lucius die Fabrik an den Unternehmer Friedrich August Büdingen. Zwanzig Jahre später hat Büdingen den Betrieb an Etienne Roques weitergegeben. Roques war noch unter Lucius als kaufmännischer Lehrling in den Betrieb eingetreten und konnte (wahrscheinlich durch eine Erbschaft, welche seine Großeltern ihm und seinen Geschwistern hinterlassen hatten) die chemische Fabrik im Oeder Weg übernehmen.

Roques hatte allerdings schon etliche Jahre vorher - ähnlich wie Wippermann - durch eine Heirat Karriere gemacht. Er heiratete 1883 Theodore Mettenheimer, die Nichte von Friedrich Wilhelm Mettenheimer, wurde dadurch ein Mitglied dieser großen und weit verzweigten Handelsfamilie in der Altstadt. Die Handlung Mettenheimer & Simon war im 18. Jahrhundert gegründet worden und befand sich viele Jahrzehnte im Haus »Zum Würzgarten« am Markt - mitten in der Frankfurter Altstadt.

1862 wurde die Handlung geteilt, die En-gros-Handlung zog mit dem Namen »Mettenheimer & Simon« in das Haus »Zur Stadt Karlsruhe« in der Großen Friedberger Straße 26, während der restliche Handel unter dem Namen „Heinrich Mettenheimer“ in der Altstadt verblieb. Der letzte Inhaber der Firma Metterheimer & Simon starb im November 1892. Danach ging die Firma auf seinen Neffen [»Schwiegerneffen«] Roques-Mettenheimer über.

Im Frankfurter Adressbuch von 1893 wird unter dem Stichwort »Büdingen“ auf Mettenheimer & Simon verwiesen. Unter »Mettenheimer & Simon (und Medicinal-Abtheil. vorm. F. A. Büdingen), große Friedbergerstr. 26« werden die einzelnen Handelsbereiche aufgelistet: »Drogen, Chemikalien, Material- und Farbwaren Engros, Pulverisier- u. Schneide-Anstalt“.

Aus einer in französischer Sprache geschriebenen Mitteilung vom 1. April 1893 an die Kunden von Mettenheimer & Simon sowie F. A. Büdingen erfahren wir, dass Etienne Roques die beiden Unternehmen im Oeder Weg und in der Großen Friedberger Straße unter dem Firmennamen Mettenheimer & Simon zusammengeschlossen hat. Wahrscheinlich wurde die Fabrik im Oeder Weg weiterhin zum Zerkleinern und Pulverisieren von Farbhölzern, Rinden und Pflanzen benützt, es gibt über die Funktion dieser Fabrik für die Zeit nach 1893 keinerlei Unterlagen.

Etienne Roques starb 1929. Aus vielen weiteren Zusammenschlüssen bildete sich nach dem Zweiten Weltkrieg schließlich der Pharmagroßhändler »Alliance Healthcare« heraus, der größte Medikamentenhändler in Deutschland. Aber das ist natürlich eine andere Geschichte …

Über den Autor

Dr. Reinhard Büttner, Jahrgang 1943, Medizinstudium in München, chirurgische Ausbildung in den beiden Städtischen Krankenhäusern Höchst und Offenbach, danach bis 2014 praktizierender Allgemeinarzt in Frankfurt. Das Buch ist unter „Reinhard Büttner: Die Fabrik im Grünen (Oeder Weg 34). Anmerkungen zur Entwicklung der chemischen Industrie in Frankfurt“ in der Universitätsbibliothek Frankfurt und in der Deutschen Bibliothek einsehbar.

Bildnachweis:

Das für die Collage verwendete Foto ist im Historischen Museum Frankfurt unter C 25706 b archiviert.