Jüdisches Leben in Frankfurt

Gaußstraße 14 – Ein "Ghettohaus" in Frankfurt am Main

von Renate Hebauf

Fanny Joelson, geb. Berlin, 1986. Ehemalige Bewohnerin der Gaußstraße 14. (Foto: Hebauf)
Fanny Joelson, geb. Berlin, 1986. Ehemalige Bewohnerin der Gaußstraße 14. (Foto: Hebauf)

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Die Geschichte eines Hauses und seiner jüdischen Bewohnerinnen und Bewohner zwischen 1912 und 1945. Als ich 1978 als Studentin in das alte Haus im Frankfurter Nordend einzog, ahnte ich nichts von seiner bedrückenden Geschichte. Erst ein paar Jahre später entdeckte ich, mehr oder weniger durch Zufall, dass es zwischen 1941 und 1944 eines von rund 300 ‚Ghettohäusern’ in Frankfurt gewesen war. Dort hatten die Nationalsozialisten jüdische Bürger, getrennt von der übrigen Bevölkerung, auf engstem Raum zusammengepfercht, bevor sie sie in die Konzentrations- und Vernichtungslager verschleppten.

Auf dieses dunkle Kapitel der Frankfurter Geschichte stieß ich in einem Buch über den Frankfurter Arbeiterwiderstand im Dritten Reich, in dem die „Ghettohäuser in der Gaußstraße“ erwähnt wurden.

In welcher Verbindung stand meine Wohnstraße, vielleicht sogar mein Wohnhaus zur national-sozialistischen Judenverfolgung? Im Frankfurter Stadtarchiv fand ich die schockierende Antwort, als ich dort die Listen der aus Frankfurt deportierten Juden durchforstete. Hier waren nicht nur die Namen der Betroffenen und ihre Geburtsdaten verzeichnet, auch die Adressen und sogar die Stockwerke waren angegeben, wo man sie abgeholt hatte. Neben vielen Adressen aus meiner Nachbarschaft stand hier auch meine eigene Adresse – auf einer der Listen sogar gleich 12 Mal.

»Die Vergangenheit war mir fürchterlich nahe gekommen. Die Frage ließ mich nicht mehr los: Was war da, wo ich heute wohne, vorgefallen?«

Wieder zu Hause, wollte sich die Alltagsnormalität nicht mehr recht einstellen. Zum ersten Mal wurde mir bewusst, dass die Vorgeschichte von ‚Auschwitz’ auch in meiner unmittelbaren Umgebung begonnen hatte. Die belastende Vergangenheit war mir buchstäblich auf den Leib gerückt. Ich wollte wissen, wer diese Menschen gewesen waren. Was war da, wo ich heute wohne, vorgefallen? Was war aus jedem und jeder Einzelnen geworden? Hatte jemand überlebt?

Diese Fragen wurden zum Ansporn für meine Spurensuche, die sich über viele Jahre hinziehen sollte. Es war der Wunsch, die Menschen hinter der Namensliste mit meiner Adresse wieder sichtbar zu machen, dort, wo sie gelebt hatten, in dem Stadtviertel, das sie einmal mit geprägt hatten, an sie zu erinnern. Ich wurde nicht nur in den Archiven fündig, sondern hatte auch das Glück, eine ehemalige Bewohnerin zu treffen, die das Ghetto Theresienstadt überlebt hatte und mir ihre Erinnerungen über die Jahre im ‚Ghettohaus’ Gaußstraße 14 schildern konnte.

Als ich 2007 im Rahmen des „Stadtteil-Historiker“-Projekts begann, ein Buchmanuskript über die Verfolgungsgeschichte der ehemaligen jüdischen Bewohner des ‚Ghettohauses’ Gaußstraße 14 zu erarbeiten, konnte ich auf meinen früheren Recherchen in Archiven und Zeitzeugenbefragungen aufbauen. Die Ergebnisse waren teilweise bereits in einen 1999 erschienen Aufsatz des Sammelbands „Nach der Kristallnacht“ eingegangen (hrsg. von Monica Kingreen, Frankfurt am Main 1999).

In dem Projekt „Stadtteil-Historiker“ ging es darum, neu zugängliche Quellen – beispielsweise im Archiv des Internationalen Suchdienstes (ITS) Arolsen  –  auszuwerten oder verbesserte  Recherche-möglichkeiten über das Internet zu nutzen, die dann auch etliche neue Erkenntnisse und Details über den Verfolgungsprozess und die Biografien einzelner Hausbewohner erbrachten. Überaus wertvoll war bei meinen Recherchen die Zusammenarbeit mit Nachkommen ehemaliger Bewohner im Ausland, von denen ich viele erst 2006 mit Hilfe des Internets und anlässlich einer ‚Stolperstein’-Verlegung des Künstlers Gunter Demnig für ehemalige Hausbewohner ausfindig machen konnte.

Sie schlugen für mich ihre Familienalben auf, kopierten für mich Fotos, Dokumente und Briefe ihrer Angehörigen und ergänzten dieses Material mit persönlichen Erinnerungen. Einige wussten allerdings sehr wenig über die Verfolgungs- und Lebensgeschichte ihrer Eltern oder Großeltern, da diese sie mit ihren schlimmen Erlebnissen nicht hatten belasten wollen.

Die einjährige Förderung meiner Forschungsarbeit hat mir einen entscheidenden Impuls zur Erarbeitung einer Gesamtdarstellung gegeben und wesentlich zur Entstehung des kürzlich erschienenen Buches beigetragen (Gaußstraße 14. Ein „Ghettohaus“ in Frankfurt am Main, Hanau 2010).

Das Buch erzählt die Geschichte der jüdischen Hausbewohner zwischen 1912 und 1945 anhand von exemplarischen Einzelschicksalen, aus denen sich aber auch ein erstaunlich differenziertes Bild des allgemeinen Prozesses der nationalsozialistischen Judenverfolgung ergibt. Ein Teil mit Kurzbiografien, in dem an alle Todesopfer, Überlebenden von KZs und ins Exil Davongekommenen unter den ehemaligen Hausbewohnern erinnert wird, ergänzt den exemplarischen Teil.

Zahlreiche Abbildungen veranschaulichen den Text. Ich hoffe, das Buch trägt dazu bei, einer breiten Öffentlichkeit einen schwierigen Teil der Stadtgeschichte näherzubringen und an einen vergessenen Teil der Frankfurter Bevölkerung zu erinnern: an Menschen, die vor ihrer Ausgrenzung als „Juden“ und ihrer Verfolgung und Vertreibung Frankfurter Bürger waren und einen wesentlichen Teil des wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Lebens und Reichtums dieser Stadt ausgemacht haben.