Biografien

"Jetzt geht es mir gut - jetzt kann ich reden."

von Lilo Günzler (†)

Lilo Günzler erhielt am 29. April 2009 das Bundesverdienstkreuz für ihr außergewöhnliches ehrenamtliches Engagement. (Foto: Dominik Buschardt)
Lilo Günzler erhielt am 29. April 2009 das Bundesverdienstkreuz für ihr außergewöhnliches ehrenamtliches Engagement. (Foto: Dominik Buschardt)

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Die Stadtteil-Historikerin Lilo Günzler beschreibt in ihrer Autobiographie ihr Überleben als „Mischling ersten Grades“, als der sie sich tituliert sah, in der Frankfurter Innenstadt. Mehr und mehr wird dieser rassenideologische Ausdruck zum Symbol ihrer Angst und zum Damoklesschwert über ihrer gesamten Jugend, die sie zeitweise versteckt in Frankfurt am Main verbringt. Es ist eine Geschichte, die vor allem junge Menschen in ihren Bann zieht; zahlreich kommen sie zu den Lesungen, und immer wieder – „solange ich es noch kann“, sagt Lilo Günzler – geht sie auf Einladung in die Schulen.

Minutiös haben die Autorin und ihre Co-Autorin Agnes Rummeleit den Alltag der Familie während des Zweiten Weltkrieges aufgezeichnet. Es ist neben vielen Schrecken und beängstigenden Situationen auch die Geschichte von gewährter Hilfe – und es ist die Geschichte einer wundersamen Rettung.

Lilo Günzler schrieb ihre Erinnerungen erst spät nieder. Nach dem Krieg musste sie sich zuerst eine andere Identität aufbauen. „Ich habe diese Zeit gebraucht“, sagt sie, „der Neuanfang hier in Schwanheim, überhaupt die ganze Zeit mit meinem Mann und den Kindern seit 1965, das war meine schönste Zeit.“

Als sie sich ganz aus eigener Kraft einen festen Stand im Stadtteil, bei unzähligen Initiativen in der Gemeinde, im Heimat- und Geschichtsverein und beim Theaterkreis erarbeitet hatte, da konnte sie ‚endlich reden’: „Als alle mich mochten, fühlte ich mich endlich sicher genug, meine ganze Geschichte zu erzählen.“

»Agnes hat mich gezwungen, mich wieder und wieder mit den Details zu befassen, die einem Nachgeborenen unverständlich waren. Das hat sich für unser Buch als sehr wertvoll erwiesen.«


„Ich habe nur nachts geschrieben, ich wollte es, als ich einmal angefangen hatte, auch endlich los sein“, erzählt Lilo Günzler über ihre Arbeit an dem Buch, die schließlich im Jahr 2008 begann. – „Lilos Bericht war ganz sachlich gehalten, aber es fehlten aus meiner Sicht auch viele Erläuterungen des Alltags“, beschreibt Agnes Rummeleit ihre ersten Leseeindrücke. Damals hatte sie, um sich auf ihre Aufgabe als Co-Autorin vorzubereiten, einen Kurs an der Frankfurter Universität des 3. Lebensalters belegt, und sofort setzte sie ihre Kenntnisse um: „Zunächst einmal wollte ich nicht alles hintereinander weglesen, um mir bewusst den Zeithorizont offenzuhalten.“ Schließlich wusste die Familie damals auch nicht, was der nächste Tag bringen würde oder – zumindest in den Jahren unmittelbar nach 1933 – wie lange die NS-Herrschaft andauern würde. Lilos Geschichte sollte nicht von ihrem Ende her, nicht von der Vernichtungspolitik oder der zerbombten Altstadt her, aber auch unbeeinflusst von der gänzlich unwahrscheinlichen Rettung des 12-jährigen Mädchens aus einem menschenleeren Mehrfamilienhaus der IG-Farben-Siedlung durch einen schwarzen amerikanischen Soldaten, erzählt werden. Jeder Tag sollte gleichsam zählen, da waren sich die beiden einig.

So ist ein ungemein berührendes und spannendes Buch entstanden, das seine Leser mit den persönlichen Eindrücken, aber auch mit den vielen alltagshistorischen Details in seinen Bann zieht. „Ich erinnere mich an den Gaszähler in unserer Wohnung, in den meine Mutter Münzen einwarf, wenn sie etwas kochen wollte. Sie bewahrte passende Münzen eigens zu diesem Zweck auf“, sagt Lilo Günzler. „Ein Münzautomat für Stadtgas in der Wohnung – das weiß doch heute kein Mensch mehr!“, so Rummeleit. „Wir wollten uns gerade auch an junge Menschen wenden, wie sie Lilo schon seit 2005 in ihren Zeitzeugengesprächen als Publikum hat.“

Die Schüler wollen alles ganz genau wissen – und so wird der Alltag konkret. „Ein Schüler wollte während einer Lesung wissen, was ich mir denn angesichts von Lebensmittelzuteilung und Mangelwirtschaft aufs Brot geschmiert habe. Senf, sagte ich, denn den gab es ohne Karten“, erzählt Günzler. „Solche konkreten Fragen haben uns für unser Buch inspiriert und motiviert.“