Biografien / Weltkriege, Nationalsozialismus und Nachkriegszeit

Niederrad 1933 bis 1945. Widerstand, Verfolgung und Kriegsalltag

von Robert Gilcher

Teilen

Es muss Mitte der achtziger Jahre gewesen sein, als ich in einem Gespräch erfuhr, dass der jüdische Stifter des 1931 neu erbauten Goetheturms bis zu seiner Flucht aus Frankfurt in Niederrad gewohnt hatte.

Vor einigen Jahren begann ich, angeregt durch Recherchen zu dem Schicksal evangelischer Christen jüdischer Herkunft in der Paul-Gerhardt-Gemeinde, mich näher mit dem Leben und dem Schicksal der Brüder Arthur und Carl von Weinberg zu beschäftigen. Arthur von Weinbergs Park und Haus Buchenrode waren ab 1939 Sitz des Musischen Gymnasiums. Hans Clarin und Paul Kuhn waren Schüler dieses Gymnasiums.

Arthur von Weinberg war im Dezember 1938 gezwungen worden, seinen Besitz an die Stadt Frankfurt zu „verkaufen“. Der Vertreter der Stadt Frankfurt, der bei diesem Zwangsakt im Haus Buchenrode zugegen war und dessen Unterschrift unter dem Vertrag steht, war Adolf Miersch. „Unser“ Adolf Miersch ? – Nach dem eine Wohnsiedlung in Niederrad benannt ist? Ja, „unser“ Adolf Miersch.

In der „Bibliothek der Alten“ im Historischen Museum fand ich per Zufall die Lebenserinnerungen von Kurt Schäfer, der in der „Siedlung Bruchfeldstraße“, dem ersten Projekt des „Neuen Frankfurt“ unter Ernst May, aufgewachsen ist. Schäfer erinnerte sich an Frankfurter Juden, die ab 1940 in den Fabriken in der Hahnstraße in den „Geschlossenen Arbeitseinsatz“ gezwungen waren. Auch Heinrich Droege hatte diese bedauernswerten Menschen in den Erinnerungen an seine „Tausendjährige Kindheit“ erwähnt. Droege erzählte auch von russischen Kriegsgefangenen beim „Leux“, der ehemaligen Schiffswerft am Main, die damals zum Rüstungsbetrieb Max Gerner gehörte.

Es war auch purer Zufall, dass ich Zugang zum Archiv der Geschichtswerkstatt Niederrad erhielt. Die Geschichtswerkstatt hatte in den Achtzigerjahren Erinnerungen über die Zeit in Niederrad zwischen 1900 und 1950 gesammelt und zusätzlich in Archiven geforscht. Die Ergebnisse dieser Geschichtswerkstatt waren in zwei heute leider vergriffenen Broschüren, „Wetterleuchten“ und „Von Kirchturm zu Kirchturm“, veröffentlicht worden.

In einer Ausgabe des Evangelischen Kirchenboten aus den siebziger Jahren fiel mir der Name einer Frau auf, die in den mündlichen Überlieferungen der Geschichtswerkstatt als Jüdin erwähnt worden war: eine evangelische Christin jüdischer Herkunft, verheiratet mit einem „Arier“. Sie war kurz vor ihrer noch für Mitte Februar 1945 geplanten Deportation untergetaucht und hatte überlebt. So viele und noch mehr Zufälle bei meinen Recherchen.

»Eine Reihe von (scheinbaren) Zufällen hat mich dieses Thema ergreifen lassen. Es war eine spannende Erfahrung, und ich habe auch für mich persönlich viel lernen können.«

Der nächste Weg führte in das Hauptstaatsarchiv in Wiesbaden. Unter dem Suchbegriff „Widerstand Verfolgung Niederrad“ wurden fast 200 Namen aus der rekonstruierten „Gestapokartei Frankfurt“ angezeigt, darunter circa 140 Namen von west- und osteuropäischen „Vertrags“- und Zwangsarbeiter/innen sowie Kriegsgefangenen. Diese Menschen mussten laut Kartei in vielen kleineren Betrieben, aber vor allem in den inzwischen zum Teil „arisierten“ Niederräder Firmen in der Kesselbergstraße arbeiten. Untergebracht waren sie in Baracken auf den Firmengeländen oder in beschlagnahmten und zweckentfremdeten Gasthaussälen und Schulgebäuden. Kesselbergstraße? Es war die Hahnstraße, benannt nach L. A. Hahn, dem Gründer der „Deutschen Effecten- und Wechselbank“.

Stadtteilrundgänge erschienen mir als das geeignete Mittel, diese Geschichte für mich und interessierte Mitbürger vor Ort, am Tatort sozusagen, sichtbar und begreifbar zu machen. So entstanden Stadtteilrundgänge rund um die Holzhecke, zwischen Rennbahn und Waldfried, rund um den Poloplatz, in der Hahnstraße und quer durch Alt-Niederrad, immer mit dem Schwerpunkt „Widerstand, Verfolgung und Kriegsalltag in Niederrad 1933-1945“.

Schon seit Jahren hatten Freunde und Bekannte gedrängt, dass ich mich für das Projekt Stadtteil-Historiker der Stiftung Polytechnische Gesellschaft bewerben solle. Die vielen Begegnungen in den letzten zwei Jahren mit den Hobbyhistorikern aus anderen Stadtteilen, die Vorträge und Seminare mit den Geschichtswissenschaftlern haben mir einerseits noch einmal einen Schub gegeben, meinen Horizont erweitert, andererseits haben sie mich geerdet, mir Bodenhaftung und Gelegenheit zur Selbstreflexion und zur Selbstvergewisserung gegeben.

Als Abschlussarbeit in der vierten Staffel des Stadtteil-Historiker-Projekts habe ich die Entwicklung und Geschichte des Niederräder Mainufers in der fraglichen Zeit (Leux-Werft, „Judenbad“, SA-Marinestandarte) erforscht und im Sommer 2014 bei einem Stadtteilrundgang der Öffentlichkeit vorgestellt.