Migration und Neuanfänge

NTS und Possev – russische Emigranten in Frankfurt–Sossenheim

von Dr. Matthias Vetter

Stacheldraht hinter der russischen Druckereihalle erinnert immer noch an den Kampf mit dem KGB
Stacheldraht hinter der russischen Druckereihalle erinnert immer noch an den Kampf mit dem KGB.

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Als ich in den Achtzigerjahren in Heidelberg russische Geschichte und Literatur studierte, war es nichts Ungewöhnliches, dass ein Teil der Lektüre nicht aus der Sowjetunion, sondern von russischen Exilverlagen stammte. Der Grund lag in der sowjetischen Zensur, die das Erscheinen vieler Werke in ihrem sprachlichen Heimatland verhinderte.

So war es leicht möglich, dass einem Nachwuchs-Slawisten ein Buch mit dem Erscheinungsort Frankfurt in die Hände fiel, das von einem Verlag namens „Possev“ veröffentlicht wurde. Es interessierte mich damals kaum, was es mit diesem Verlag auf sich hatte. Doch einige seiner Bücher zu Geschichte und Politik der Sowjetunion und manche der von ihm veröffentlichten literarischen Werke gehörten durchaus zum Kanon.

Ende der Neunzigerjahre gab ich die hauptamtliche Beschäftigung mit Russland und Osteuropa auf. Zufällig zog ich ihn jener Zeit in den Frankfurter Stadtteil Sossenheim. Es dauerte eine Weile, bis ich feststellte, dass dort auch der Possev-Verlag angesiedelt ist – gar nicht weit von meinem neuen Domizil entfernt. Bald entdeckte ich dann auch, dass der bisherige Verlag sich in ein deutsch-russisches Kulturzentrum verwandelt hatte. Bei dessen Veranstaltungen war ich dann auch hin und wieder Gast, denn natürlich war mein Interesse an der russischen Kultur trotz anderer Berufswege nicht erloschen.

Es vergingen nochmals zwanzig Jahre, bis ich durch einen erneuten Zufall auf das Projekt „Stadtteil-Historiker“ stieß. War „Possev“ nicht ein Thema, das sich hier geradezu aufdrängte? Ein Stadtteil, der erst einen russischen Exil-Verlag und dann ein russisches Kulturzentrum beherbergt, von dessen Existenz wenige und von dessen Vorgeschichte nur die allerwenigsten etwas wissen! Dass dieses Zentrum so gut wie unbekannt ist, hat seine Gründe: Die russische Exilvereinigung, die es gründete, war im Kalten Krieg in den bisweilen blutigen Kampf der Geheimdienste tief verwickelt. Es war keine Geschichte, mit der irgendeiner der Beteiligten sich an die Öffentlichkeit drängte; lange Jahre war die Sossenheimer Einrichtung hermetisch abgeriegelt.

Die geheimnisumwitterte exilrussische Organisation hinter dem Verlag nannte und nennt sich NTS: eine Abkürzung, die im Russischen offiziell für „Volksbund der Schaffenden“ steht, inoffiziell aber auch als „Wir bringen den Tyrannen den Tod“ gedeutet wurde. Tatsächlich war der NTS einst eine revolutionäre Organisation, deren Mitglieder vom bewaffneten Sturz der sowjetischen Diktatur träumten. In den Sechziger-, Siebzigerjahren allerdings erkannten sie die Erfolglosigkeit ihrer Bemühungen. So bauten sie ihr Verlagswesen mit verbotener Literatur aus – nun war die Parole „Bücher statt Maschinengewehre“. Der Verlag in Sossenheim blühte auf, kaum ein großer Name, der nicht unter seinen Autoren auftauchte: Pasternak, Solschenizyn, Sacharow …

»„Tod den Tyrannen“ - oder: „Bücher statt Maschinengewehre“?«

Einfach nur aufzuschreiben, wie die Beziehungen dieses russischen Zentrums zu seinen Nachbarn im Stadtteil waren, wäre zu wenig gewesen. Ich hätte mich dabei auf eine allgemein bekannte Geschichte dieser Organisation und ihres Verlages beziehen müssen. Aber eine solche Darstellung gibt es nicht. So musste ich den Blick erheblich ausweiten – bis zurück in die Tage des Bürgerkriegs nach der Russischen Revolution, durch den Zweiten Weltkrieg und die heißeste Phase des Kalten Krieges, bis in die Jahre der Entspannungspolitik und der Perestrojka.

Da der Possev-Verlag nicht nur Bücher veröffentlichte, sondern auch mehrere Zeitungen und Zeitschriften, war eine Menge gedrucktes Material zu durchforsten. Die Recherchen führten auch in Archive: Nur wenig gibt es im Frankfurter Stadtarchiv, was belegt, dass die Sossenheimer Russen im Schatten der Aufmerksamkeit agierten. Aber das Hessische Staatsarchiv in Wiesbaden verfügt über eine reiche Sammlung von Flugblättern des NTS. Die wurden im Osten des Bundeslandes an der Grenze zur DDR regelmäßig aufgesammelt. Dort nämlich ließ der NTS seine in Frankfurt gedruckten Flugblätter mit Ballons aufsteigen, damit sie mit dem Westwind die Rotarmisten in der DDR erreichten und sie zum Sturz der Diktatur aufriefen. Da solche Aktivitäten auch aus Bonn unterstützt wurden, findet man im Bundesarchiv Koblenz interessante Quellenbestände.

Schließlich gibt es in Berlin im Stasi-Archiv reiches Material: teils aus dem KGB, teils über die Bemühungen der Stasi, die hartnäckigen Antikommunisten in Frankfurt kaltzustellen (wozu mehrere Bombenanschläge versucht wurden, auch in Sossenheim). Die teilweise noch geheimen Archivalien des NTS konnte ich nicht komplett einsehen, aber immerhin eine Auswahl davon. Wichtige persönliche Nachlässe aus dem NTS befinden sich ohnehin nicht in Sossenheim, sondern an der Universität Bremen. Zu meiner Überraschung gibt es einen großen Quellenbestand der CIA frei zugänglich im Internet – nicht nur über das Sponsoring von Literatur, auch über Operationen wie das Absetzen von NTS-Agenten per Fallschirm in der UdSSR.

Am Ende ist es mir vielleicht gelungen – so hoffe ich –, ein nicht nur in Frankfurt weitgehend unbekanntes Kapitel der Nachkriegsgeschichte und des Kalten Krieges auszuleuchten, ausgehend von einer Beobachterposition am Frankfurter Stadtrand. Viele der Themen, die ich berühre, sind nicht einmal wirklich vergangene Geschichte. Der russische Angriff auf die Ukraine zeigte auf beklemmende Weise, wie viele Fragen zwischen Ost und West ungelöst sind.

Obwohl der russische Kulturverein „Possev“ immer noch in Sossenheim ansässig ist, sind Verlag und politische Organisation längst nach Russland zurückgekehrt. Der NTS hat sich dort mehrfach gespalten, eine einheitliche Haltung zum Putin-Regime nimmt er nicht ein. Erstaunlicherweise beruft sich die Organisation schon immer auf politisch-philosophische Vordenker, die heute offenbar auch im Weltbild Putins eine Rolle spielen. Das heißt nicht, dass die Frankfurter Exilrussen Vordenker des Moskauer Tyrannen sind oder er ihr Schüler. Aber es ist ein komplexes Feld, und so blieb mir nicht erspart, am Ende auch auf aktuelle Ereignisse einzugehen, die sich fern von Sossenheim abspielen.

Zugegeben: Meine Ergebnisse sprengen den Rahmen reiner Stadtteil-Historie. Auch wenn Sossenheim und einige andere Ecken Frankfurts und Hessens eine prominente Rolle spielen, so ist doch ein weiter Horizont abgesteckt. Aber es gibt eben keine Lokalgeschichte, in die die „große Geschichte” nicht hineinspielt - und keine Weltgeschichte, die nicht immer auch lokal greifbar wäre. In diesem Spagat zwischen globaler Zeitgeschichte und Stadtteilhistorie ist ein Buch entstanden. Es ist im Berliner Metropol Verlag unter dem Titel „Wir bringen den Tyrannen den Tod. Die russische Exilorganisation NTS im Kampf mit der Sowjetunion“ erschienen (ISBN 3863316592) und im Buchhandel überall bestellbar.

Über den Autor

Dr. Matthias Vetter

Geboren 1960 in Karlsruhe, Studium der Mittleren und Neuen und der Osteuropäischen Geschichte und der Slawistik in Heidelberg, Promotion. Arbeit unter anderem im Frankfurter Ost-Westeuropäischen Kultur- und Studienzentrum „Palais Jalta“; später in der IT in Frankfurter Großbanken.