Migration und Neuanfänge

„Schatztruhen des Lebens.“ – Kreative Biografie- und Erinnerungsarbeit

von Behjat Mehdizadeh

Bild aus einem Workshop mit Stipendiaten der Stiftung Polytechnische Gesellschaft. Foto: Lila Ghamar Tadaioni
Bild aus einem Workshop mit Stipendiaten der Stiftung Polytechnische Gesellschaft. Foto: Lila Ghamar Tadaioni

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Jeder Mensch birgt in sich einen Schatz voller Geschichten, die er im Laufe des Lebens gesammelt hat und die Bestandteil seines Lebens geworden sind. Leider vergessen wir in der Schnelllebigkeit unserer Zeit oft, den Wert unserer erlebten Geschichten zu schätzen und lebendig zu halten.

Wer bin ich? Woher komme ich? Wie bin ich so geworden, wie ich jetzt bin? Das sind zentrale Fragen, welche die Menschen seit je beschäftigen. Menschen mit jeder Form von Migrationserfahrung sind mit diesen Fragen besonders konfrontiert. Sie haben jedoch kaum adäquate Möglichkeiten, sich über ihre Lebenserfahrungen vor, während und nach der tatsächlichen Migration auszutauschen.

Ein Grund für eine kreative Biografie- und Erinnerungswerkstatt in einer multikulturellen Stadt wie Frankfurt ist der, eben diesen Menschen und auch anderen einen vertrauten Raum anzubieten, in dem jeder Interessierte die Möglichkeit hat, in der Gruppe über seine Lebenserfahrungen und Erinnerungen nachzudenken und darüber zu sprechen.

Das Erzählen in der Gruppe dient dazu, Menschen miteinander in Kontakt zu bringen, um ihre Lebenserfahrungen untereinander auszutauschen und sich über diesen Prozess zu vergewissern, welche Wege sie in ihrem Leben gegangen sind. Die Menschen setzen sich sowohl im Erzählen als auch im Zuhören mit ihren Geschichten auseinander.

Die eigene Lebensgeschichte aus neuen Perspektiven zu betrachten und mögliche Wege für anstehende Entscheidungen abzuleiten erfordert eine aufmerksame Herangehensweise. Sie ermöglicht den Akteuren, ihre Kompetenzen und Ressourcen wieder neu zu entdecken und sie für jetzt und für die Zukunft aktiv einzusetzen, sowie voneinander zu lernen und die eigene Identität zu stärken. Nach dieser Methode führte ich im Rahmen des Projekts „Stadtteil-Historiker“ einen einjährigen Workshop durch, aus dem eine Publikation hervorging.

Letztendlich geht es bei dieser Arbeit also nicht unbedingt darum, die eigene Lebensgeschichte zu problematisieren und schmerzhafte Erfahrungen, verpasste Chancen oder Defizite zu erkennen und eine Lösung für ein „Problem“ herbeizuführen. Vielmehr ist für mich wichtig, dass Erinnerungen und Erfahrungen, insbesondere diejenigen, in denen die Akteure aktiv waren und erfolgreich ihr Leben gestalten konnten, als Ressourcen und Kompetenzen wahrgenommen werden, die für das heutige und zukünftige Handeln unerschöpflich nutzbar gemacht werden können. Der Akteur hat die Möglichkeit, durch Interaktion in der Gruppe andere Lebensformen und Lebenswege kennenzulernen und nachzuvollziehen, wie jeder innerhalb der Gruppe so geworden ist, wie er jetzt ist.

»Die Ausstellung und die Lesungen bildeten einen weiteren Schwerpunkt meines Projekts. Die Geschichten verlassen gewissermaßen die private Sphäre und gelangen als Denkanstöße und Diskussionsanlässe in die Stadtgesellschaft.«

Darüber hinaus ist das Wiedererkennen dieses Schatzes des Lebens nicht nur für die Akteure selbst von hohem Wert; mit dem biografischen Arbeiten drücken sie einen Teil ihrer Lebensgeschichte und einen Teil der Geschichte ihrer Gesellschaft aus und geben diesen Teil an die Mitglieder der Gesellschaft und an die folgenden Generationen weiter. So werden Migranten nicht als „Fremde“ mit ihren „Problemen“ und „Defiziten“ identifiziert, sondern als aktiver Teil einer vielfältigen Gesellschaft mit all ihren Ressourcen und Kompetenzen. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Lebensgeschichte ist nicht nur für Zuwanderer sinnvoll, sondern für alle Interessierten, die aus ihren individuellen und kollektiven Lebenserfahrungen und aus der Geschichte lernen wollen.

Erzählen ist Kommunikation, jedoch kann hierdurch nicht immer der passende Zugang zu unseren Erinnerungen und erlebten Geschichten gefunden werden. Daher biete ich den Akteuren an, sich unter Zuhilfenahme verschiedener nonverbaler kreativer Techniken einen spielerischen, experimentellen und unmittelbaren Zugang zu ihren Erinnerungen zu verschaffen, beispielsweise Malen, Fotografieren, Arbeit mit Ton, Singen oder auch Schreiben. Genauso können persönliche Fotos und Gegenstände aus verschiedenen Lebensphasen, die eine symbolische Bedeutung für bestimmte erlebte Geschichten haben, dem Akteur einen Halt und eine Unterstützung beim Erinnern und Erzählen geben. Den gestalterischen Möglichkeiten sind dabei keine Grenzen gesetzt.

Am Ende steht eine Ausstellung von Fotos (aus der Vergangenheit und Gegenwart) und Gegenständen, welche in individuell gestalteten Schatzkisten – Symbol für den Schatz an Lebenserfahrung – präsentiert werden. Auszüge aus den autobiografischen Geschichten, in Deutsch und in den jeweiligen Muttersprachen, werden von den Akteuren, sofern sie es möchten, während einer Präsentation selbst vorgelesen.

Im Rahmen des Stadtteil-Historiker-Projekts habe ich einen einjährigen Workshop durchgeführt, aus dem eine Publikation hervorging.